Dudu
Mutter
Gedankenverloren stieg die Tochter die Treppe hinauf mit der Post in der Hand. Jeder Schritt hallte schwer durch den Hausflur des Mehrfamilienhauses. Im dritten Stock blieb sie vor der Türe stehen, bei der die Fußmatte lag, ein Hund darauf mit langen Schlappohren. Man konnte noch gerade die Schrift erkennen. „Hier wache ich!“
Wie hatte sie nur die Stufen noch alle geschafft?
Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf – sie selbst war erst 52, kam völlig aus der Puste hier oben an und ihre Mutter war deutlich älter gewesen.
Sie steckte sich die Post unter den Arm und suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Gerade als sie ihn gefunden hatte und den Schlüssel ins Schlüsselloch steckte, ging die gegenüberliegende Tür auf. Eine ältere Frau in Schürze trat hinaus, im Hintergrund lief noch BR 3 und der Geruch von aufgebrühtem Kaffee drang zusammen mit der Musik von Cat Stevens „I love my dog“ aus der Tür.
„Ach Frau Weißgerber, das tut mir unendlich leid mit Ihrer Mutter.“ Die Nachbarin wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und trat näher an die Tochter.
„Das war doch viel zu früh – so plötzlich und unerwartet. Ich hab sie noch am Tag vorher gesehen, wie sie zum Friedhof gegangen ist. Das muss doch jetzt ein großer Verlust für Sie sein?“ Die Tochter wandte sich der Nachbarin ihrer Mutter zu und ergriff die entgegengestreckte Hand.
„Ja, damit habe ich nicht gerechnet. Sie war doch erst 78 Jahre alt.“ Ihre Mutter war gerade erst gestorben. Vorige Woche, der Anruf der Polizei. Ihre Mutter sei gefunden worden. Sie sei schon tot gewesen. Ein Schlaganfall hat der Notarzt gesagt. Man habe sie nicht wiederbeleben können.
„Ach, das tut mir so leid. Aber vielleicht ist es besser so“, die Nachbarin stockte, „wollen Sie einen Moment hereinkommen und sich setzen?“
„Nein, vielen Dank, das ist sehr nett, aber ich will jetzt erstmal schauen, wie es in der Wohnung aussieht. Ich muss ja den ganzen Haushalt auflösen.“ Die Tochter drehte sich zur Wohnungstür und schloss auf.
„Wenn sie etwas brauchen, dann sagen sie Bescheid, Frau Weißgerber.“ Die Nachbarin drehte sich um und ging zurück in ihre Wohnung.
„Ja, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen.“ Die Tochter schloss die Tür leise.
Dann trat sie in den Wohnungsflur. Sie schloss leise die Wohnungstür. Der kleine Flur mit der Garderobe lag vor ihr. Die Schuhe standen fein säuberlich aufgereiht – nur nicht paarweise. Auf der Hutablage der Garderobe lag neben einem Sommerhut eine Rolle Toilettenpapier. Der Wintermantel hing an der Garderobe. An einem Haken hing ein Küchenhandtuch. Neben dem Spiegel klebte ein Zettel „Trixie!“ stand da in zittriger Schrift. Sie lehnte sich an die Wohnungstür und schloss die Augen. Von draußen klangen dumpf die Geräusche. Kindergeschrei von der Schule gegenüber – es musste Pause sein. Irgendwo war eine Baustelle in der Nähe, man hörte den Presslufthammer und eine Rüttelplatte im Wechsel. Ein Martinshorn tönte vorbei. Irgendjemand im Haus übte Gitarre – ein melancholisches Stück.
Aus der Küche klang das Ticken der Küchenuhr. Dieses Ticken – seit ihrer Kindheit kannte sie diese Küchenuhr.
Und dann der Geruch nach Bratenfett, Weichspüler und Toilettenreiniger. Sie erinnerte sich an die Sonntage. Sie und ihre Schwester mussten in den guten Kleidern am Mittagstisch sitzen. Es gab Rouladen, Rotkohl und Klöße. Der Vater liebte Rouladen. Ihre kleine Schwester, die sich mal wieder vollgekleckert hatte und der Pudel, der unter den Stuhl ihrer kleinen Schwester kroch, um die Essensreste aufzulecken. Die Mutter schimpfte, aber immer mit diesem freundlichen Unterton: „Ach Bienchen, das saubere Kleid, jetzt muss die Mama wieder waschen.“ Und der Vater, der „Bienchen“, ihre kleine Schwester immer in Schutz nahm. „Ist doch nicht so schlimm – Hauptsache es schmeckt ihr, nicht wahr, Bienchen?“ Vater strich ihr über die Haare. Egal, wie sehr sie sich anstrengte, sie wurde nicht beachtet. Ihr Kleid war sauber. Kein Klecks, nichts. Alles drehte sich um Bienchen.
Und dann war da dieser Tag, an dem sie wieder der Mutter beim Wäschemachen helfen musste. Die voll gekleckerten Kleider der Schwester. Klar, sie war ja die Ältere. „Du bist Mamas großes Mädchen, nicht wahr“, das waren ihre Worte. Es war der Tag, an dem die Polizei mit dem Pudel vor der Tür stand und Mutter dann zusammenbrach, als sie die Nachricht erhielt:
Ein Autounfall. Ihr Mann mit dem Kind und dem Pudel, unterwegs. Tödlicher Unfall – nichts zu machen. Sofort tot, junger Fahrer von der Fahrbahn abgekommen.
Die Großeltern waren gekommen und hatten geholfen, bis es Mutter wieder besser ging. Aber Mutter war danach anders.
Doch da war noch ein anderer Geruch in dieser Wohnung, einer, der hier nicht hingehörte. Etwas Ranziges, kaum wahrnehmbar, aber da.
Sie nahm das Küchentuch vom Haken an der Garderobe und ging in die Küche. In der Küche roch es etwas nach faulendem Abfall. Doch das war nicht der andere Geruch, den sie im Flur wahrgenommen hatte. Die Küchenuhr hing an der Wand, eines jener Modelle aus den Siebzigerjahren. Jedes Ticken hämmerte ihr die alten Mittage zurück ins Gedächtnis, wenn sie aus der Schule kam und ihre Mutter schon in der Küche stand und das Mittagessen zubereitete und ihre kleine Schwester im Kinderzimmer spielte.
Auf der Fensterbank standen Blumen, deren Blätter schlapp nach unten hingen, als hätten sie längst aufgegeben. Sie fühlte in den Blumentöpfen nach. Die Erde war trocken. Auf dem Tisch eine aufgeschlagene Tageszeitung und die Brille ihrer Mutter. Sie legte die Post dazu, die sie mit aus dem Briefkasten gebracht hatte.
Sie setzte sich auf den Stuhl am Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Bei ihrem letzten Besuch saß sie hier zusammen mit ihrer Mutter. Die hatte Kaffee gekocht. Zusammen aßen sie Kuchen, den die Tochter vom Bäcker mitgebracht hatte. Sie erzählte ihrer Mutter, wie anstrengend es war mit den beiden Jungs. Paul, der jetzt in der Pubertät war und den nichts mehr zu interessieren schien. Der ständig am Handy und am Computer hing. Und Vincent, der entweder in seinem Zimmer herumhing oder mit irgendwelchen zwielichtigen Freunden unterwegs war. Wenn sie etwas sagte wegen der Schule oder dass sie sich Sorgen machte, hörte sie nur: „Ooch Mutter – du nervst!“ Andreas, ihr Ex war fein raus. Der hatte sich aus dem Staub gemacht. Hier am Küchentisch hatte sie ihren ganzen Kummer ausgeschüttet.
Und Mutter hatte sie dabei mit diesem gütigen Lächeln angesehen, streichelte ihre Hand und sagte: „Ach Bienchen, das wird schon wieder.“
„Mutter…, Bienchen ist tot! Ich bin’s doch!“ sagte sie dann und Mutter blickte sie irritiert an, entschuldigte sich und antwortete: „Stimmt, ja. Möchtest du noch einen Kaffee?“
Sie blickte die Blumen auf der Fensterbank an und stand auf. Sie öffnete die Tür des Küchenschranks unter der Spüle und schaute, ob da eine Gießkanne war. Dort waren nur die Putzmittel, der stinkende Mülleimer und Tischdecken, fein säuberlich gefaltet.
Die Tischdecken, warum hatte sie die Tischdecken hier unten hingelegt? Die gehörten doch in den Wohnzimmerschrank.
Sie legte die Tischdecken auf den Küchentisch und hob anschließend den Mülleimer hoch, um ihn in den Flur zu stellen.
Die Gießkanne… wo war die Gießkanne? Vielleicht im Abstellraum.
Sie nahm den Mülleimer mit und ging zurück in den Flur.
Sie stellte den Mülleimer neben die Wohnungstür. So würde sie ihn nicht übersehen. Dann öffnete sie die Tür der Abstellkammer und knipste das Licht an. Der Staubsauger, Besen, Schrubber und Eimer standen dort. Es roch nach Putzmitteln und Schuhcreme. Auf dem Boden stand ein Wäschekorb mit frisch gebügelter Wäsche. Auf der Wäsche lag die Fernbedienung des Fernsehers und in den Regalen standen neben Konservendosen – Hundefutter.
Was wollte sie mit dem Hundefutter? Und dieser Zettel am Spiegel, Trixie?“
Jede Menge Dosen. Trixie, ihr alter Pudel, der Familienhund war schon lange nicht mehr. Damals nach dem Unfall musste er weggegeben werden, das meinte jedenfalls Opa. Er hatte ihn dann in sein Auto gepackt und ins Tierheim gebracht. Mutter wäre nicht mehr in der Lage, sich um Trixie zu kümmern, hat er zu Oma gesagt und Mutter dabei sorgenvoll angeschaut. Sie wusste noch, wie traurig sie selbst war, wie sie ihre Großeltern angefleht hatte, Trixie dazulassen. Sie hätte sich um den Hund gekümmert, hatte sie den Großeltern versprochen.
Aber Opa meinte: „Nein, das geht nicht. Du siehst doch wie es Mama geht. Wer weiß, was noch passiert – der Hund muss weg!“
Damit war Trixies Schicksal besiegelt – und ihres irgendwie auch. Sie hatte jetzt nicht nur ihre Schwester und ihren Vater verloren, sondern auch ihren geliebten Hund. Und Mutter – die saß am Küchenfenster und schaute hinaus. Niemand wusste, was in ihrem Kopf vorging. Vielleicht dachte sie, dass Vater gleich mit ihrer Schwester und Trixie zurückkommen würde. Die Erinnerungen zogen sie hinab, wie damals.
Sie schaute sich in der Abstellkammer um. Es war keine Gießkanne zu sehen. Sie knipste das Licht wieder aus und schloss die Tür von der Abstellkammer. Im Flur roch es immer noch so ranzig. Wo kam dieser Geruch nur her? Sie sah, dass die Schlafzimmertür aufstand.
Sie ging ins Schlafzimmer. Das alte vergilbte Rollo war noch heruntergezogen. Hier wurde der ranzige Geruch stärker. Ein Geruch, der sich mit dem Geruch von Kleidung, Mottenkugeln und Schweiß mischte.
In der Nachbarwohnung lief das Frühstücksfernsehen. Werbeunterbrechung. Eine Stimme versprach „unvergessliche Genussmomente“.
Sie hielt inne. Sie ging zum Fenster, vorbei an dem riesigen Schleiflack-Kleiderschrank und zog an dem Rollo, das mit einem lauten Ratsch nach oben schnellte. Sie drehte sich um und schaute durch den Raum. Ein paar Fliegen lösten sich vom Dunkel, aufgescheucht vom plötzlichen Licht. Das Bett, ein Doppelbett, war noch nicht gemacht. Neben der Seite von ihrer Mutter, da, wo früher der Vater gelegen hatte, lag eine Hundedecke. Die Stelle war eingedrückt, als hätte dort ein großer Hund gelegen.
Komisch, sonst hatte sie das Bett doch immer gemacht, wenn sie aufgestanden war. Hatte sie doch einen Hund? Vielleicht zur Pflege, nur gelegentlich.
Sie trat einen Schritt vor und schaute auf dem Boden. Neben dem Heizkörper unter dem Fenster stand ein Fressnapf mit Resten von Hundefutter. Es war schon dieser Filz von Schimmel auf dem Hundefutter und an einigen Stellen krochen Maden heraus. Sie musste würgen.
Was war das denn? Ihre Mutter war doch so reinlich. Und warum dieses Hundefutter? Beim letzten Mal hatte sie nichts von einem Hund erzählt. Was war nur mit ihrer Mutter geschehen? Warum war ihr nichts aufgefallen bei ihrem letzten Besuch?
Sie schaute auf das Hundefutter. Irgendwo hatte ihre Mutter bestimmt Gummihandschuhe und Abfalltüten. In der Küche unter der Spüle, im Abstellraum?
Sie ging zurück in die Küche. Sie riss die Tür des Unterschranks unter der Spüle auf. Nichts! Sie öffnete die anderen Unterschränke. Zwischen den Töpfen lag ein altes Fotoalbum.
Warum lag es dort?
Sie nahm das Fotoalbum und schlug es auf. Fotos von Urlauben, mit Papa, ihrer Schwester, mit Trixie. Auf einem Foto war sie auch zu sehen – an der Hand ihrer Mutter. Aber man konnte nur ihren Arm und die Hand erkennen. Sie blätterte das Album weiter durch. Trixie, wie sie über den Strand von Nordwijk rannte. Bienchen in Legoland mit dem Sommerkleid. Einige Bilder waren herausgerissen. Aber wo waren diese Bilder? Kein Bild, auf denen sie selbst zu sehen war?
Sie setzte sich wieder an den Küchentisch.
Warum war sie nicht auf den Bildern? Was war mit ihrer Mutter nur geschehen?
Ihr kamen Tränen in die Augen. Immer nur Bienchen. Selbst für ihre Mutter war sie nur Bienchen.
Was hatte sie getan, dass ihre Mutter sie nicht wahrnehmen wollte?
Dann stand sie auf, wischte sich mit dem Küchenhandtuch die Tränen aus dem Gesicht.
Warum war ich eigentlich in der Küche? Ach, die Handschuhe und Müllbeutel.
Sie ging zur Abstellkammer, öffnete die Tür, knipste das Licht an – nichts. Sie ging zum Badezimmer. Gerade als sie das Licht anmachen wollte, klingelte es an der Tür.
Die Tochter schaute durch den Türspion der Wohnungstür. Vor der Tür stand ein älterer Herr im Anzug, mit Fliege. Sie öffnete die Tür. Der Mann lächelte zuerst, als die Tür aufging, doch als er die Tochter erblickte, schaute er erstaunt. In der einen Hand hielt er eine Reisetasche, die schlaff an seiner Hand herunterhing, in der anderen Hand eine Einkaufstasche.
„Guten Tag,“ sagte die Tochter.
„Grüß Gott, ist die Frau Meininger nicht da?“ fragte der Mann, sichtlich irritiert.
„Nein, wieso?“ – Meininger war ihr Mädchenname und der Name ihrer Mutter.
„Wer sind denn Sie, wenn ich mal fragen darf?“ Der Mann schien misstrauisch zu werden.
„Ich bin die Tochter von der Frau Meininger und wer sind Sie?“ Die Tochter wurde ungeduldig.
„Verzeihung, wir waren für heute verabredet. Ich wundere mich, dass sie nicht da ist. Schmidtbauer, Alois Schmidtbauer. Ist denn etwas passiert?“
„Ja – meine Mutter ist vergangene Woche verstorben.“ Die Tochter blickte den Mann an. Der wollte etwas sagen, öffnete den Mund, die beiden Taschen glitten ihm aus den Händen. In der Einkaufstasche schienen Konservendosen zu sein.
„Nein – das kann doch nicht sein. Aber…“ Dem Mann standen Tränen in den Augen. Die Tochter bemerkte erst jetzt, dass sich die Tür der Nachbarin einen Spalt geöffnet hatte. Sie sah, dass der Mann verzweifelt schien.
„Wollen Sie vielleicht reinkommen? Ein Glas Wasser?“
Der Mann nickte stumm, nahm die beiden Taschen und die Tochter ließ ihn in die Wohnung. Ohne dass die Tochter etwas sagen musste, ließ der Mann im Flur die Taschen an der Garderobe stehen, zog seine Jacke aus, hing sie auf und ging in Richtung des Wohnzimmers und öffnete wie selbstverständlich die Tür. Es schien, als würde er sich bereits in der Wohnung auskennen. Im Wohnzimmer stand ein Bügelbrett, das Bügeleisen noch darauf, aber nicht angeschlossen. Die Schrankwand in Nussbaum, der neue Fernseher, den die Tochter ihrer Mutter geschenkt hatte, die beige Couchgarnitur, ein Sessel, der Couchtisch, vertrocknete Blumen auf der Fensterbank, ein kleiner Beistelltisch vor der Fensterbank mit dem Telefon und einem Foto von Papa, Bienchen und Trixie und ein großes Hundekissen neben der Couch. Der Mann schaute auf das Hundekissen und ließ sich in den Sessel fallen.
„Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“ fragte die Tochter, irritiert darüber, wie selbstverständlich der Mann sich in der Wohnung ihrer Mutter bewegte.
„Ja bitte, das wäre sehr nett. Ich verstehe das nicht.“ Der Mann hielt sich die Hände vor das Gesicht und fing an zu Schluchzen. Die Tochter beeilte sich, ging in die Küche und suchte aus den Küchenschränken ein Glas heraus. Sie fand schließlich ein Glas im Schrank unter dem Kühlschrank, bei den Konserven. Aus dem Wohnzimmer hörte sie, wie der Mann in ein Taschentuch schnaubte. Sie nahm Wasser aus dem Wasserhahn und ging schnell zurück in das Wohnzimmer. Der Mann saß mittlerweile in sich zusammengesunken im Sessel und schüttelte den Kopf.
„Bitte sehr!“ Die Tochter reichte ihm das Glas mit dem Wasser. Sie sah auf das riesige Hundekissen neben der Couch.
Warum hatte sie dieses riesige Hundekissen? Was war hier eigentlich los?
„Ihre Mutter hatte nichts von einer Tochter erzählt, die noch lebt. Ich verstehe das nicht. Woran ist sie gestorben? Wie ist das passiert? Ihr ging es doch noch gut.“
„Sie hatte einen Schlaganfall. Die Hilfe kam zu spät. Man hat sie auf offener Straße gefunden.“ Doch ihre Gedanken kreisten um etwas anderes.
Was hatte er gesagt? Sie hatte nichts von einer lebenden Tochter erzählt?
„Wie lange kannten Sie meine Mutter? Wie haben Sie sie kennengelernt?“
„Ich kannte sie seit ein paar Wochen. Wir haben uns auf dem Friedhof kennengelernt. Meine Frau liegt dort. Wir haben uns dann häufiger getroffen. Sie war so eine liebe Frau. Aber warum hat sie denn nichts von Ihnen erzählt? Nur von ihrem Mann, von Bienchen und von Trixie.“ Der Mann blickte auf das Foto neben dem Telefon.
„Sie hat gesagt, dass sie alle bei einem Unfall ums Leben gekommen wären. Das ist so tragisch – Mann und Tochter gleichzeitig zu verlieren. Da ist die ganze Familie ausgelöscht, von einem auf den anderen Moment.“
Die Tochter merkte, dass Wut in ihr aufstieg. Was hatte sie alles für ihre Mutter getan. Wie die Mutter damals so apathisch nach dem Tod von Papa und Bienchen war. Als Tochter musste sie sich um den Haushalt kümmern, nachdem die Großeltern weg waren. Ihre Mutter konnte das nicht. Erst nach und nach, kam sie wieder zurück ins Leben. Während ihre Klassenkameradinnen draußen spielten, im Sommer ins Freibad gingen und später in die Disco, musste sie für ihre Mutter da sein. Und jetzt sagt dieser Mann, sie hätte nichts von ihr erzählt. Und dann spricht er von einer ausgelöschten Familie. War sie denn kein Teil dieser Familie?
„Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt wieder gehen,“ sagte sie zu dem Mann und war bemüht ruhig zu bleiben. Sie stand von der Couch auf. Der Mann erhob sich mühselig aus dem Sessel, blickte noch einmal auf das Hundekissen und schüttelte den Kopf. Dann nahm er seine Jacke von der Garderobe und drehte sich noch einmal zu der Tochter.
„Wann soll denn die Beerdigung sein? Ich würde gerne zur Beerdigung kommen.“
„Am kommenden Freitag, hier auf dem Friedhof um 11 Uhr.“ Die Tochter öffnete die Wohnungstür und wartete. Der Mann nickte und ging die Treppe hinunter. Die Tochter schaute ihm nach. Der Mann blieb einen kurzen Moment auf dem Treppenabsatz stehen, blickte die Tochter an:
„Ich wollte sie nicht alleine lassen. Sie… sie brauchte jemanden, der für sie da ist. Ich wusste ja nicht, dass Sie noch da sind…“
Er ging weiter. Die Tochter schloss die Wohnungstür.
Sie blieb einen Moment im Flur stehen.
Das konnte doch nicht wahr sein. Da hat sie einen Freund, erzählt mir nichts von ihm und ihm sagt sie nichts von mir. War ich ihr etwa peinlich? Nichts. Nicht ein Wort über mich. Nur Bienchen. Immer nur Bienchen. Was habe ich eigentlich getan? Was, Mutter? War ich dir so egal?
Der Geruch hing ihr wieder in der Nase, dieser schwere, ranzige Film, der vom Schlafzimmer herüberzog. Sie schloss kurz die Augen. Dann fiel es ihr wieder ein.
Wieder mal die Dumme. Immer schön aufräumen, immer alles reparieren, immer alles richten. Und wofür? Du existierst nicht mal.
Was wollte sie noch? Die Handschuhe. Die Müllbeutel.
Sie ging ins Badezimmer. Das Licht flackerte kurz auf, bevor es sich beruhigte. Der kleine Raum mit den Ozeangrünen Kacheln war wie immer: eng, überfüllt, der Duft alter Seifen und etwas, das an feuchten Putzlappen erinnerte. Sie blieb vor dem Spiegelschrank stehen und sah sich an.
Blass. Müde. Die Stirn in Falten. Die Augen gerötet.
Dann sprach sie zu sich selbst: „Wirst du genauso wie sie? Du bist jetzt die nächste! Mutter…! Mutter, du nervst!“
Sie hielt dem Spiegel ihren Blick entgegen, als würde dort jemand stehen, der ihr etwas erklären sollte. Sie atmete tief ein, schüttelte den Kopf und öffnete den Spiegelschrank.
Verbandpäckchen, eine angebrochene Packung Tabletten, alte Cremetiegel. Sie griff in das untere Fach, zog eine Schublade heraus. Nur ein einzelner Schlüssel lag darin – klein, messingfarben, mit einem Stück Stoffband darum. Sie hielt ihn zwischen Zeigefinger und Daumen hoch.
„Wofür bist du denn?“
Der Schlüssel wirkte fremd. Sie legte ihn auf den Rand des Waschbeckens.
Keine Handschuhe.
Sie blickte sich im Badezimmer um.
Keine Handschuhe, keine Müllbeutel.
Sie ging zurück in die Küche. Auf dem Tisch lag die Zeitung, noch aufgeschlagen neben der Brille ihrer Mutter und den Tischdecken. Sie nahm sie an den Ecken hoch, als wäre sie gefährdet zu reißen, und ging damit zurück ins Schlafzimmer.
Der Geruch war stärker geworden.
Sie kniete sich hin, breitete die Zeitung auf dem Boden aus. Das Hundefutter war inzwischen eine klebrige, schimmelnde Masse. Sie atmete flach. Ohne lange nachzudenken packte sie den Napf, kippte ihn über der Zeitung aus. Die Reste klatschten dumpf auf das Papier. Maden wandten sich in dem Belag aus Futter und Schimmel.
Sie schlug die Zeitung zusammen, so gut es ging. Dann ging sie zurück in den Flur, öffnete den Mülleimer und stopfte das Bündel hinein. Es passte kaum. Sie drückte es trotzdem, bis der Deckel halb zufiel.
Ihr fielen die Worte ihrer Mutter wieder ein.
Klappe zu, Affe tot!
Hatte sie gesagt, einfach so, wenn sie am Küchenfenster saß und hinausschaute.
Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht der Tochter. Sie wollte noch mal in ihr Kinderzimmer schauen. Früher hatte sie sich das mit ihrer Schwester geteilt. Opa hatte nach dem Tod von Papa und Bienchen die Sachen von Bienchen entsorgt, wie er auch Trixie weggegeben hatte.
Sie öffnete vorsichtig die Tür vom Kinderzimmer, als hätte sie Angst, darin etwas entdecken zu können, von dem sie nichts wissen wollte. Vielleicht war ja nichts mehr von ihren Sachen übrig. Vielleicht hatte Mutter ja ihr Bett und ihren Schreibtisch und das Regal auch entsorgen lassen.

Ihr Bett stand immer noch an der Wand. Über ihrem Bett hing noch das Bild, das sie einmal von Trixie gemalt hatte. Ihr Schreibtisch vor dem Fenster. Darauf stand die Nähmaschine von Mutter. Unter dem Tisch die Nähsachen, Wolle und die Stickrahmen von Mutter. Das Regal war auch noch da und all ihre alten Bücher und der alte Kassettenrekorder. Ihr Kleiderschrank stand in der Ecke. Auf ihrem Bett lag eine Schatulle aus Holz mit einem geschnitzten Rosenmuster. Sie setzte sich auf das Bett und nahm die Schatulle. Sie war verschlossen. Sie schüttelte die Schatulle – etwas bewegte sich darin. Ihr fiel der Schlüssel aus dem Badezimmer wieder ein. Sie lief zurück ins Badezimmer, holte den Schlüssel und ging dann zurück in ihr Zimmer. Der Schlüssel passte. Sie schloss die Schatulle auf und öffnete sie vorsichtig. Darin waren die herausgerissenen Fotos aus dem Fotoalbum. Auf allen Fotos war sie zu sehen, sie mit Trixie, sie mit Bienchen, sie mit Papa, sie mit Schultüte, sie auf der Klassenfahrt in Schlaghose. So viele Bilder – und alle nur mit ihr. Unter den Fotos war ein gesticktes Deckchen, mit Blumen, einem Pferdchen, Herzchen und in großen Buchstaben – ihr Name – Heike. Wie hatte sie sich als Kind so sehr ein Pferd gewünscht…
Sie hielt das Deckchen vor sich hin und begann zu lächeln. Unter dem Deckchen lag Papier, zusammengefaltet. Sie nahm es und entfaltete es:
Meine liebe Heike,
ich bin dir unendlich dankbar, was du alles für mich getan hast. Ohne dich hätte ich die schwerste Zeit meines Lebens nicht überstanden und ich weiß, dass ich in dieser Zeit nicht für dich da sein konnte und dir viel abverlangt habe. Ich konnte dir keine Mutter sein, doch du warst mir eine Tochter, wie man sie sich nicht besser hätte wünschen können.
Ich merke, dass mir das Leben im Hier und Jetzt immer schwerer fällt. Ich vergesse Sachen, verlege Dinge und verzweifle daran. Ich habe einen Mann kennengelernt. Ich weiß nicht mehr wie er heißt, aber er steht mir bei und hilft mir, mich an die alten Zeiten zu erinnern. Das hilft mir, für einige Momente wieder da zu sein und dir dann auch zu schreiben.
Ich schreibe dir diese Zeilen, bevor es dazu zu spät für mich wird und ich das nicht mehr kann. Du sollst wissen, dass ich unendlich stolz auf dich bin und dich immer liebe.
Deine Mutti
Tränen tropften auf das Papier. Heike faltete den Brief wieder zusammen und legte ihn vorsichtig zurück in die Schatulle zusammen mit dem Deckchen und den Fotos.
Sie nahm die Schatulle und ging hinaus in den Flur. Da sah sie die Reisetasche und die Einkaufstasche. „Verdammt! Die hat er vergessen.“ Sie legte die Schatulle auf der Garderobe ab und schaute in die Einkaufstasche. Darin war auch ein Einkaufszettel mit der Schrift ihrer Mutter und die Quittung:
Rotkohl,
Klöße,
Rouladen,
Speck,
Zwiebeln,
Saure Gurken im Glas
Hundefutter!
Sie musste schmunzeln. Papas Lieblingsgericht. Aber wieso schon wieder Hundefutter?
Sie machte den Reißverschluss von der Reisetasche auf. Sie ließ die Tasche fallen. Sie hielt ein Hundekostüm in der Hand. Sie starrte auf das Fell, und ließ es im selben Moment los. Sie nahm hektisch die Schatulle und ihre Handtasche und ging.
Die Nachbarin, die an der Tür lauschte, hörte noch wie sie die Wohnungstür verschloss und schnell die Treppe herunterlief.
Der Müll stand noch neben der Tür.
