Sweetheart Lady
Der Regen hatte schon den ganzen Morgen auf den kleinen Friedhof getrommelt. Nicht diese dicken Tropfen sondern ein feiner, gleichmäßiger Novemberregen. Ein Windstoß trieb die Feuchtigkeit unter die Mäntel. Gegen elf Uhr standen sie im Halbkreis um das offene Grab: die Tochter seines Freundes, ihr Mann, zwei beinahe erwachsene Enkel, der Sohn mit seiner Frau und den Kindern. Schwarze Mäntel, geschlossene Regenschirme, gedämpfte Stimmen.
Er stand etwas abseits. Nicht aus Absicht, eher aus Gewohnheit. Die Worte des Pfarrers wehten an ihm vorbei wie ein leicht verzerrtes Echo.
„Denn der Staub muss wieder zu Erde werden, wie er gewesen ist. Und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.“
Wie oft hatte er diese und ähnliche Worte schon gehört? Er kannte diese Formulierungen; sie hatten ihn nie wirklich erreicht. Heute noch weniger.
Die Tochter wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. Ihr Sohn stützte unbeholfen die Mutter, als wollte er dadurch erwachsener wirken. Der Ehemann hatte sich etwas abgewandt und schaute auf seine Uhr. Er wusste, dass sein Freund und der Schwiegersohn sich nicht verstanden hatten. Nun schien der froh zu sein, dass der „Alte“ ihn nicht mehr mit seinen Ansichten störte.
Der Sohn seines Freundes warf seiner Schwester einen dieser Blicke zu, gespieltes Mitgefühl, doch dahinter erkannte er Misstrauen. Er kannte dieses Schweigen zwischen Geschwistern: freundlich im Ton, aber schon auf dem Weg zum Rechnen und Vergleichen. Bald würden sie die vertrauten Fragen stellen, die immer gleich begannen und selten gut endeten. Er hatte das alles zu häufig gesehen, um sich noch darüber zu wundern.
Er beobachtete die Szene, als sähe er sie durch eine dünne Glasscheibe. Sein Freund – der letzte, mit dem er noch spazieren gegangen war, der letzte, der ihn ohne Umstände verstand – war nun ebenfalls fort. Und er wusste, dass dessen Kinder bald eine Überraschung erleben würden. Auch das gehörte zu diesen Tagen: das, was ein Mensch hinterließ, und das, was andere darin suchten und glaubten zu finden.
Er spürte ein leises, inneres Zurückweichen. Nicht Trauer im eigentlichen Sinn, eher ein müdes Erkennen, dass sich hier nur wiederholte, was sich immer wiederholt.
Als die Angehörigen nacheinander Erde in das Grab fallen ließen, stieg ein Gedanke in ihm auf, schlicht und ohne Bitterkeit:
Zu meiner Beerdigung wird niemand mehr kommen.
Seine Frau war seit Jahren tot. Es hatte nie Kinder gegeben. Die alten Freunde waren einer nach dem anderen verschwunden wie verblassende Fotografien. Und Streit um sein Erbe würde es auch nicht geben. Er war, in gewisser Weise, am Ende der Liste angekommen.
Der Regen wurde stärker. Aus feinem Nieseln wurden schwerere Tropfen. Irgendwo klappte jemand einen Schirm auf. Er nickte der Familie kurz zu und trat einen Schritt zurück. Niemand hielt ihn auf. Niemand erwartete etwas von ihm.
Auf dem Weg zum Ausgang trat er in eine Pfütze. Kaltes Wasser drang durch den dünnen Schuh. Es irritierte ihn nicht. Der Friedhof lag still hinter ihm; der November roch nach nassem Laub und altem Stein.
Er nahm den Bus zurück ins Seniorenheim, ohne die nassen Mantelärmel auszuschütteln. Als die automatische Tür des Gebäudes hinter ihm zufiel, wusste er, dass er zurückgekehrt war an einen Ort, der nicht ins Leben führte – nur in ein langes, gedämpftes Warten.
Die Flure rochen nach gekochtem Gemüse, Desinfektionsmittel und diesem dezenten Geruch nach benutzten Windeln in Plastiksäcken, ein Geruch, der sich in jede Stunde des Tages hineinlegte.
Er war noch fit, beweglich, klar im Kopf; er lebte hier, weil es einfacher war, weil man ihm sagte, dies sei der richtige Weg im Alter – besser rechtzeitig als zu warten bis es zu spät ist. Die meisten anderen hatten diesen Punkt längst überschritten. Altersgebrechen, schleichende Verwirrung, kleine und große Abhängigkeiten – ein ganzes System, das nur noch hielt, weil alle versuchten, nicht hinzusehen. Die spärlichen Verwandtenbesuche für die Bewohner an den Wochenenden, wenn sie denn mal kamen, verliefen genauso. Eine Packung Mon Chéri, ein paar Schnapspralinen, ein kurzes Lächeln – und am Fahrstuhl noch einmal winken.
Heute war die Nachtschicht dünn besetzt. Eine Pflegefachkraft für die Etage, eine Hilfskraft für die Station. Er kannte diese Verhältnisse. Oft hatte er mit angefasst, wenn sich jemand verlaufen hatte oder auf dem Weg zum Zimmer stecken blieb. Ein Arm unterhaken, ein paar beruhigende Worte, und weiter ging es. Es war nichts Besonderes, eher ein stiller Ausgleich für das, was hier fehlte.
Doch heute hatte er keine Kraft dafür. Nicht nach der Beerdigung.
Er ging direkt auf sein Zimmer, schloss die Tür und blieb einen Moment stehen. Die Stille dort war eine andere als draußen. Gedämpfter, schwerer. Er schob den Vorhang etwas zur Seite und schaute hinaus in den dunklen und trüben Nachmittag. Ein Novembertag, grau bis in die letzten Winkel. Nur die Lichter der Parkplatzbeleuchtungen spiegelten sich auf dem Asphalt, als hätten sie sich darin verrannt.
Er knipste das Radio an. Ein Country-Song lief, Sweetheart Lady, eine sentimentale Melodie über die Liebe im Alter. Früher hätte ihn das vielleicht berührt. Heute berührte es nichts mehr in ihm. Hier, in diesem Wartesaal, wie er dieses Seniorenheim immer nannte, gab es niemanden, mit dem er sich noch einer Hoffnung hingeben wollte. Beziehungen, Zuneigung, zweite Chancen – all das schien ihm plötzlich weit weg, fast aus einer anderen Zeit.
Er setzte sich auf die Bettkante, hörte die Stimme im Radio, diesen warmen, weichgesungenen Trostversuch – Come fly with me forget your sorrow, I will be yours ‚til tomorrow… – er schüttelte nur leicht den Kopf. Er dachte an die Zeit mit seiner Frau. Sie hatten kein Leben mit Kummer, den er hätte vergessen müssen. Bis zu dem Moment, als seine Frau krank wurde. Seine Frau hatte damals darauf bestanden, dass er, falls sie zuerst ginge, in ein Heim ziehen solle. „Damit ich weiß, dass du versorgt bist“, hatte sie gesagt. Er hatte es ihr versprochen. Aus Liebe, aus Rücksicht.
Jetzt wusste er, dass es ein Fehler gewesen war. „Come fly with me“ ging ihm immer und immer wieder durch den Kopf. Er saß da und hörte dem Lied zu, ohne wirklich zuzuhören.
Er musste hier wieder raus. Je früher, desto besser. Er blieb noch lange sitzen. Irgendwann stand er auf, holte Papier und Umschlag und schrieb seine Kündigung, ruhig und ohne Zögern. Am nächsten Morgen gab er sie im Sekretariat ab.
Zwei Tage später bat die Heimleiterin ihn zu einem Gespräch. Ihr Büro lag etwas abseits, ein Raum mit zu niedriger Decke und einem künstlichen Duft, der vergeblich versuchte, nach Zitrus zu riechen. Sie lächelte ihn an, als er sich setzte – dieses einstudierte Lächeln, das er aus Gesprächen mit Angehörigen kannte.
„Herr Lindholm, kann ich Ihnen etwas anbieten?“
Er lehnte ab.
Sie begann sofort: Ob er sich nicht mehr wohlfühle, ob etwas vorgefallen sei, ob er sich zurückziehe. Man könne über alles sprechen. Einsamkeit, Unterforderung – es gebe viele Gründe, und sie sei selbstverständlich für ihn da. Dabei schob sie ihm sein Kündigungsschreiben über den Tisch und sagte, das sei sicher ein Versehen.
Er antwortete nicht. Stattdessen schob er ihr das Kündigungsschreiben zurück.
„Alles Wichtige steht dort. Bitte nehmen Sie es zur Kenntnis.“
Ein kaum sichtbarer Schatten glitt über ihr Gesicht. Man müsse doch zunächst prüfen, ob so ein Entschluss wirklich überlegt sei. Er habe niemanden, zu dem er gehen könne. Wohin wolle er überhaupt? Gerade nach dem Verlust seines Freundes seien Entscheidungen manchmal… schwieriger. Eine Beerdigung reiße alte Wunden auf.
Dann deutete sie an, dass man in solchen Fällen jemanden hinzuziehen müsse, der die Tragfähigkeit eines solchen Schrittes einschätzen könne. Nicht als Kontrolle – natürlich nicht –, sondern zu seinem Schutz.
Er schwieg. Die Stille breitete sich aus, bis sie begann, ihre Stifte anders zu sortieren.
Dann öffnete er seine Mappe und schob ihr ein Blatt hinüber. Nur das Geräusch des Papiers. Sie beugte sich vor, runzelte die Stirn. Das Pflegeprotokoll einer Mitbewohnerin: dokumentierte Leistungen, die es nie gegeben hatte. Eine Unterschrift, gesetzt an einem Tag, von einer Fachkraft, die nicht im Dienst war.
„Wenn Sie möchten,“ sagte er leise, „können wir das Gespräch gern größer ziehen. Für solche Auffälligkeiten gibt es zuständige Stellen. Besonders, wenn es nicht bei einem Blatt bleibt.“
Eine kurze Pause.
„Ich kann meine Kündigung auch direkt dort einreichen. Falls Ihnen das lieber ist.“
Sie sah ihn an, einen Moment zu lange, dann wich sie aus. Das Protokoll verschwand unter einem Stapel Unterlagen, als müsse es unsichtbar werden, bevor jemand anderes es sah. Ihr Ton hellte sich merklich auf. Natürlich werde man eine Lösung finden. Selbstverständlich sei sein Wunsch zu respektieren. Man könne den Vertrag zum Monatsende aufheben, sie werde das sofort veranlassen.
Er nickte. Kein Triumph, kein Ärger. Nur die stille Gewissheit, endgültig am falschen Ort gewesen zu sein.
Am nächsten Tag erhielt er die schriftliche Bestätigung seiner Kündigung.
In den Tagen nach dem Gespräch begann er, sein Zimmer zu räumen. Viel war es nicht, was er besaß: ein alter Sessel, ein kleiner Tisch, der Sekretär, ein paar Bilder, die er seit Jahren mit sich herumgetragen hatte. Dinge, die ihm einmal wichtig gewesen waren, nun aber eher wie Überreste eines Lebens wirkten, das sich schon von ihm entfernt hatte.
Er fragte den Hausmeisterhelfer, einen jungen Syrer, ob er ihm beim Entsorgen helfen könne. Der Mann nickte sofort, ohne viele Fragen zu stellen. Für ihn war es selbstverständlich, Dinge weiterzugeben, die andere nicht mehr brauchten. Er nahm die Möbel und einen Stapel Kleidung, ein paar Bücher, sogar etwas Schmuck von seiner Frau. Alles würde in irgendeinem Haushalt noch ein zweites Leben bekommen.
Was er behalten wollte, war schnell gepackt: ein paar Fotos, einige Dokumente, sein Radio, die wenigen Kleidungsstücke, die er wirklich brauchte. Zwei Koffer reichten. Mehr war nicht nötig.
Zwei Wochen später stand er vor dem Eingang des Seniorenheims. Die automatische Tür glitt hinter ihm zu, ein sachtes Surren, dann ein letzter Luftzug, der die abgestandene Wärme des Gebäudes nach draußen trug. Für einen Moment blieb er stehen, als müsse er sich vergewissern, dass er tatsächlich draußen war – jenseits des Wartesaals.
Die Luft empfing ihn anders, freier, offener. Der Wind wehte ihm mild ins Gesicht. Es war kurz vor Weihnachten, überraschend warm für die Jahreszeit. Der Himmel war farblos, aber weit, und in dieser Weite lag ein leiser, kaum spürbarer Trost.
Er stellte seine beiden Koffer neben sich ab. Mehr brauchte er nicht. Und es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sich dieses Wenige nicht nach Verlust anfühlte, sondern nach einem Anfang.
Er atmete ein letztes Mal tief ein, als wolle er prüfen, ob diese Welt noch zu ihm gehörte.
Im August des darauffolgenden Jahres, nach seinem Auszug aus dem Seniorenheim, hatte Paul zunächst einige Monate in einer kleinen Pension in Deutschland gewohnt, ohne Eile, ohne Verpflichtungen. Er lebte von seiner Pension als ehemaliger Beamter und von Rücklagen, die ihm ein ruhiges, sorgenfreies Auskommen erlaubten. Irgendwann reifte in ihm der Entschluss, dorthin zurückzukehren, wo er einmal glücklich gewesen war. An die schwedische Küste, an der er vor vielen Jahren mit seiner Frau gewesen war, schon seit ihrer gemeinsamen Studienzeit.
Er war mit dem Zug nach Schweden gereist, später mit einem Mietwagen weitergefahren. Seit Jahren war er nicht mehr Auto gefahren, doch die Straßen hier waren breit, leer, freundlich. Es dauerte nur wenige Kilometer, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte.
Nun wohnte er seit zwei Wochen in einer kleinen Pension oberhalb einer Bucht, in einem jener rot gestrichenen Holzhäuser, die im Abendlicht wirkten, als stünden sie schon seit Jahrhunderten dort. Er verbrachte die Tage am Meer, ging auf den Klippen spazieren, ließ die Stille und das Licht dieses Ortes in sich einsinken.
Der Nachmittag lag wie ein dünner Schleier über der Bucht. Das Meer war fast glatt, nur gelegentlich lief eine längere Welle aus der Ferne an, löste sich im Flachen auf und hinterließ einen leisen, matten Klang, der in der Wärme zerrann. Paul saß auf einer Bank oberhalb des Wassers, dort, wo ein schmaler Pfad zwischen Wacholder und Kiefern verlief. Seit zwei Wochen kam er fast jeden Tag hierher, ohne dafür einen Grund zu brauchen. Es war der einzige Ort, an dem die Tage nicht zählten.
Er bemerkte die junge Frau erst, als sie sich zu ihm setzte. Vorsichtig, beinahe tastend, als wüsste sie nicht, ob man hier überhaupt Platz einnehmen durfte. Sie wirkte müde.
Dann klingelte ihr Handy. Sie sah auf das Handy, auf die Nummer, die anrief und es schien, als überlege sie, den Anruf anzunehmen. Dann hielt sie es widerwillig an das Ohr.
Paul verstand nur Bruchstücke—nicht die Worte, mehr den Ton.
Eine Stimme wahrscheinlich der Mutter, verletzte Entschlossenheit, die des Vaters, kühl, kontrolliert.
Die junge Frau antwortete kaum. Ein „Ja“ hier, ein „Ich weiß“ dort, jedes Wort wie ein Schritt durch tiefen Sand. Sie wurde lauter. Dann ein deutliches: „Nein, dann macht das doch!“
Als sie aufgelegt hatte, blieb ihre Hand noch zitternd am Telefon. Die Luft zwischen ihnen wurde etwas dichter, nicht unangenehm, nur vorsichtiger.
Sie wischte sich rasch über die Augen, mehr aus Reflex als aus Eitelkeit.
Paul sagte leise:
„Schwieriges Gespräch.“
Sie zuckte leicht zusammen, drehte sich zu ihm.
„Oh“, sagte sie, „Sie sprechen Deutsch?“
Ein Hauch von Verlegenheit flog über ihr Gesicht. „Ich dachte…, ich dachte, hier versteht mich keiner.“
„Manchmal hat es Vorteile, übersehen zu werden“, antwortete Paul, ohne zu lächeln und ohne zu urteilen. Sie nickte, aber versuchte zu lächeln, ein Lächeln, das sofort wieder in sich zusammensank. Er wartete. Nicht auf eine Antwort – er konnte warten, ohne etwas einzufordern. Schließlich sagte sie, ihre Stimme brüchig, aber ruhig:
„Meine Eltern wissen jetzt alles. Dass ich das Studium abgebrochen habe. Dass ich weg bin. Dass ich einfach… nicht mehr konnte.“
Sie holte kurz Luft.
„Und sie wollen, dass ich zurückkomme. Sofort. Sonst unterstützen sie mich nicht mehr.“
Paul sagte nichts. Und gerade deshalb sprach sie weiter.
„Ich wollte nur… herausfinden, was ich eigentlich will. Ich dachte, vielleicht hier. Vielleicht in diesem Land. Seit meiner Kindheit wollte ich hier hin. Seit Bullerbü und Pipi Langstrumpf. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nur noch mehr verloren bin.“
Sie sah wieder zum Meer. Paul folgte ihrem Blick. Eine weite Fläche, unbewegt und doch voller Richtungen.
„Verloren sein“, sagte er nach einer Weile, „ist manchmal der einzige ehrliche Zustand, um zu einer Entscheidung zu kommen.“
Sie sah ihn an, irritiert und gleichzeitig erleichtert, als hätte sie seit Monaten darauf gewartet, dass jemand einen Satz sagte, der nicht wie ein Urteil klang.
Paul lächelte nur schwach. Er spürte etwas, das er lange nicht mehr gespürt hatte: die Möglichkeit, jemandem etwas zu geben, ohne etwas dafür zu wollen.
Für einen Moment war es, als würde zwischen ihnen ein stiller Raum entstehen – derselbe Raum, der ihn einst mit seiner Frau verbunden hatte, wenn Worte nur noch Nebensache waren und alles Wichtige in der Stille geschah.
Die junge Frau stand auf und drehte sich zu Paul und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich heiße übrigens Ellen“, sagte sie leise. „Vielleicht treffen wir uns ja noch einmal hier.
Paul stand auf und nickte und nahm ihre Hand. „Gewiss, ich bin Paul“, antwortete er.
Sie nickte, und der Kummer in ihrem Gesicht lockerte sich einen Hauch.
Als wäre dieser Ort – diese Bank, dieser Blick aufs Meer – ein erster, kaum wahrnehmbarer Schritt zurück in ihre eigene Welt.
In den folgenden Tagen kam Paul immer wieder zu dieser Bank. Er hoffte, dass Ellen vorbeikommen würde und tatsächlich fand auch sie den Weg. Manchmal setzten sie sich einfach nebeneinander auf die Bank über der Bucht, schweigend, bis einer von ihnen zu sprechen begann. Ein anderes Mal lud er sie zum Essen ein, in das kleine Wirtshaus nahe des Hafens, wo der Boden beim Gehen leicht knarrte und das Tageslicht durch die kleinen Fenster in schmalen Streifen fiel. Später verabredeten sie sich zu Spaziergängen entlang der Küste, immer ohne viel Planung, eher wie ein Faden, der sich still weiter spann.
Ellen erzählte ihm von ihrem abgebrochenen Jura-Studium, den Erwartungen ihrer Eltern, der Kanzlei ihres Vaters, den langen Monaten, in denen sie nicht wusste, wie sie sich selbst in ihrem eigenen Leben wiederfinden sollte. Sie sprach von ihrer Liebe zur skandinavischen Literatur und wie gerne sie Skandinavistik studieren würde und Literaturwissenschaft. Paul sprach von seiner Frau, von den gemeinsamen Jahren, von seinem Beruf in der Rechtsabteilung einer Behörde – einem Leben, das in der Rückschau geordnet wirkte, auch wenn es sich damals nicht immer so angefühlt hatte.
Er merkte, wie leicht es ihm fiel, ihr zuzuhören, und wie selten ihm das in den letzten Jahren geworden war. Ein paar Mal dachte er, nur flüchtig:
„Wäre ich fünfzig Jahre jünger – vielleicht hätte ich mich in sie verliebt.“
Doch der Gedanke blieb zart, fast körperlos, ohne Bedauern. Es genügte ihm, dass er noch einmal jemanden gefunden hatte, dem er etwas geben konnte – Zeit, Aufmerksamkeit, die Art von Ruhe, die man erst im Alter lernt.
Eines Nachmittags, als sie vom Strand zurückkamen, blieb Ellen stehen, sah auf das Meer hinaus und sagte fast beiläufig, als hätte sie den Satz lange in sich getragen:
„Ich habe lange nicht mit jemandem so ruhig sprechen können.“
Paul nickte nur.
Am nächsten Tag saß Paul wieder auf der Bank. Ellen kam den schmalen Pfad hinauf. Sie wirkte gefasster als in den letzten Tagen, vielleicht sogar leichter. In der Hand trug sie ein Buch, dessen Kanten längst nicht mehr neu waren. Sie setzte sich nicht sofort, blieb erst neben der Bank stehen, als wolle sie den richtigen Moment finden, um anzukommen.
„Paul“, sagte sie leise.
Er nickte ihr zu, so selbstverständlich, als hätte er auf genau diesen Klang gewartet. Sie setzte sich, drehte das Buch in den Händen, strich kurz über den Einband.
„Ich wollte Ihnen sagen… ich werde weiterziehen. Morgen schon.“
Sie sah auf das Meer, nicht auf ihn.
„Ich habe beschlossen, zurückzugehen. Aber… auf meine Art. Ich werde Skandinavistik studieren. Und Literaturwissenschaft. Ich weiß nicht, wie ich das schaffe ohne die Unterstützung meiner Eltern, aber ich werde arbeiten, sparen, irgendwie wird es gehen. Ich kann nicht mehr warten und ich will nicht mehr, dass andere entscheiden, wer ich sein soll.“
Paul hörte ihre Worte wie ein leises Aufatmen, das lange in ihr eingesperrt gewesen war.
„Das ist gut“, sagte er. „Das klingt nach Ihnen.“
Sie lächelte kurz, fast schüchtern.
„Ich glaube, es ist das erste Mal seit Jahren, dass ich etwas wirklich für mich entscheide. Und das habe ich Ihnen zu verdanken. Ich glaube, ohne unsere Gespräche hätte ich das nicht geschafft.“
Dann hielt sie ihm das Buch hin. „Der Wald. Ich habe es immer bei mir. Seit Jahren schon. Es hat mich durch einiges gebracht. Es passt zu Ihnen.“
Sie öffnete die vordere Seite, zeigte auf eine kleine Notiz.
„Ich habe meine Mailadresse hineingeschrieben. Und meine Nummer. Wenn Sie einmal… wenn Sie erzählen möchten, wie es Ihnen geht. Oder wenn Sie einfach jemanden brauchen, der zuhört. Ich würde mich riesig freuen.“
Paul nahm das Buch vorsichtig, als handle es sich um etwas Zerbrechliches.
„Danke“, sagte er. „Das bedeutet mir viel.“
Er hatte sich an ihre Gegenwart gewöhnt – die Ruhe, die sie mitbrachte, ohne es zu wollen. Er wusste, dass dieser Abschied endgültig sein würde. Und er wollte es ihr nicht zeigen.
„Ich freue mich“, sagte er und zwang sich zu einem warmen Ausdruck, „dass Sie einen Weg gefunden haben. Einen eigenen.“
„Ich hoffe nur, dass ich nicht gleich wieder den Mut verliere“, antwortete sie.
Er schüttelte den Kopf.
„Verlieren kann man Mut. Aber man findet ihn auch wieder. Hören Sie auf Ihr Herz, nicht auf die Stimmen, die lauter sind als Sie selbst.“
Sie nickte, und plötzlich umarmte sie ihn – vorsichtig, aber fest genug, dass er ihren Atem spürte. Dann ein kurzer Kuss auf seine Wange, sanft wie die Geste einer Enkelin. Ein Abschied ohne Drama, aber mit einem Gewicht, das beide spürten.
„Ich werde Ihnen schreiben, dann haben Sie auch meine Adresse“, sagte er.
„Danke, Paul, für alles.“
Dann stand sie auf, schulterte ihren Rucksack und ging den Weg hinunter zur Bucht.
Kurz bevor der Pfad hinter den Kiefern verschwand, drehte sie sich um und winkte – kein großes Winken, eher ein leises Zeichen des Wiedererkennens.
Paul hob die Hand zurück. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, blieb er noch eine Weile sitzen. Er legte das Buch auf die Knie, strich mit dem Daumen über den zerlesenen Einband: „Der Wald“ von Kerstin Ekman. Er sah hinaus auf das Meer, das heute wie eine Fläche aus hellem Metall wirkte. Der Wind kam wieder auf.
Am Morgen nach Ellens Abschied begann Paul, das Buch zu lesen, das sie ihm geschenkt hatte. Die Seiten waren weich vom vielen Umblättern. Es war kein Buch über einen einzelnen Menschen, sondern über den Wald selbst – über seine Tiefe, seine Geduld, über die lange, oft widersprüchliche Nähe zwischen Mensch und Natur, die seit Jahrtausenden bestand. Paul las langsam, Satz für Satz, und spürte, wie etwas in ihm aufweichte, etwas, das schon da gewesen war, lange bevor er geboren wurde, und das bleiben würde, wenn er selbst längst gegangen war. Einige Sätze blieben an ihm hängen – als hätte jemand Worte gefunden, die er selbst nie formulieren konnte.
Am nächsten Tag ging er hinaus. Er nahm den Pfad, der am Rand des Dorfes begann und sich zwischen den hohen Kiefern verlor. Es wurde seine tägliche Bewegung: geschmeidig, unaufgeregt, ein Weg ohne Ziel. Er blieb stehen, wenn ihn ein Geruch traf – Harz, Feuchtigkeit, ein Hauch von Salz, der vom Meer herüberzog. Er setzte sich auf Steine, fühlte das warm gewordene Gestein im Rücken, lauschte den Vögeln, die sich manchmal zeigten und manchmal unsichtbar blieben. Manchmal begegneten ihm Wanderer, die er freundlich grüßte.
Mit jedem Tag zog ihn der Wald weiter hinein. Er wollte alleine sein mit dem Wald. Irgendwann verließ er die markierten Wege. Nicht absichtlich, eher wie von selbst. Zwischen den Bäumen öffneten sich neue Linien, feine Schneisen, über die ein Mensch gehen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Kiefern standen weit auseinander wie alte Hüter. Der Boden federte unter seinen Schritten, weich von Moos und alten Nadeln.
An einem Nachmittag fand er die Lichtung. Sie lag da wie ein stiller Atemzug mitten im Wald – ein Teppich aus Moos, Gräsern und Farnen, über dem das Licht der Sonne in schmalen, wandernden Flecken tanzte. Paul blieb stehen.
Das Licht berührte sein Gesicht, warm und unaufdringlich. Er setzte sich.
Er ließ sich ins Moos sinken, spürte den feuchten, weichen Boden unter dem Rücken.
Mit geschlossenen Augen kamen die Erinnerungen: die Sommerreisen mit seiner Frau im alten R4, die Nächte, in denen sie im Zelt lagen und der Regen auf die Plane prasselte, der Duft ihres Haares nach Sonne. All das war fern – und nun auf einmal doch so nah, als läge sie neben ihm im Gras.
Er schlief ein, ohne es zu merken.
Etwas schnupperte an ihm. Er wurde davon wach. Ein leises Scharren, ein Rascheln im Unterholz. Ein Tier, vielleicht ein Fuchs oder ein Marder, aber er sah es nicht. Nur die Bewegung der Luft, ein kurzer Hauch auf seinem Arm.
Er öffnete die Augen – und die Nacht stand über ihm.
Zuerst wusste er nicht, wo er war. Der Himmel so groß. Die Bäume dunkel wie Säulen, die in eine unsichtbare Höhe ragten, als trügen sie das Firmament.
Der Wind setzte ein, ganz leicht, und wanderte durch die Kronen der Kiefern. Ein helles Rauschen, gepaart mit dem tiefen Dröhnen der Bäume, als sängen sie zusammen mit dem Wind. Paul hörte das Meer – weit entfernt, aber deutlich, ein gedämpftes Grollen, das durch die Nacht wanderte. Der Wind brachte den salzigen Geruch des Meeres mit sich. Zwischen den Kiefern lag der warme Duft von Harz, darunter der feuchte Atem von Moos und Erde, als hätte der Wald selbst zu atmen begonnen.
Er hob den Kopf, sah nach oben – und in diesem Moment schien die Welt stillzustehen.
Der Himmel war ein einziges, gewaltiges Leuchten. Kein Grau, kein Dunst, nur klare Tiefe. Sterne, so zahlreich, dass sie wie ein Gewebe wirkten, das die Dunkelheit zusammenhielt. Ein Streifen der Milchstraße, milchig und doch scharf umrissen, zog sich über ihm wie ein aufgehobener Pfad. Und dann: ein leiser Regen von Sternschnuppen, so fein, dass er wie ein Flüstern wirkte.
Paul atmete ein, langsam, tief.
Als Kind hatte er Angst vor der Unendlichkeit gehabt. Vor dem Gedanken, dass es kein Ende gab. Vor dem dunklen Raum, der alles verschluckte. Und gleichzeitig fürchtete er sich vor dem Ende. Jetzt war davon nichts geblieben. Die Unendlichkeit wirkte nicht mehr fremd, sondern vertraut. Warm, beinahe mütterlich. Ein Raum, der ihn nicht kleiner machte, sondern leichter. Als wäre der Himmel schon immer über ihm gewesen – ein verlässlicher Begleiter, ein stiller Anker, ein Zuhause. Der Wald schien ihn zu umschließen.
Er blieb lange so liegen. Der Himmel färbte sich allmählich von tiefem Schwarz in ein dunkles Blau, das erste Licht des Morgens schob sich vorsichtig an den Rand der Nacht.
Als die ersten Konturen der Bäume wieder sichtbar wurden, setzte er sich langsam auf, klopfte sich das Moos von der Hose und machte sich auf den Weg zurück zur Pension. Der Wald atmete hinter ihm weiter. Der Himmel blieb über ihm wie ein stilles Versprechen.
Da wusste er, was zu tun war. Es fühlte sich weder schwer noch endgültig an. Genug war genug.
Die Luft war kühl, doch nicht kalt, und die ersten Vögel begannen bereits mit ihrem unsicheren Morgenruf. Als er die Straße zu seiner Pension erreichte, lag das Dorf noch im Schlaf. Nur ein Fenster der Pension war erleuchtet.
In seinem Zimmer zog er die Vorhänge auf. Das frühe Licht fiel milchig auf das Bett, den kleinen Tisch, die wenigen Dinge, die ihm geblieben waren. Er setzte sich an den Schreibtisch, nahm Papier zur Hand und schrieb zwei Briefe. Den einen an Ellen, behutsam, langsam, als müsse jedes Wort erst in ihm aufsteigen, bevor er es niederschreiben konnte. Den anderen – sein Testament – in einer Handschrift, die erstaunlich ruhig war.
Als er fertig war, legte er beide Umschläge auf den Tisch, wusch sich das Gesicht und kämmte sein Haar. Dann ging er hinunter zum Frühstück.
Der Wirt begrüßte ihn mit einem freundlichen Nicken. Paul erwiderte es, setzte sich an seinen Stammplatz am Fenster und aß in aller Ruhe.
Den Vormittag verbrachte er draußen. Er ging zum Meer, setzte sich auf die Bank, auf der er so oft mit Ellen gesessen hatte. Das Wasser lag glatt wie eine Metallfläche, nur von einem sanften Dunststreifen durchzogen, der vom offenen Wasser herüberzog. Er blieb lange dort sitzen, ohne nachzudenken – oder vielleicht dachte er, aber die Gedanken hatten keinen Widerstand mehr.
Am Nachmittag kehrte er in die Pension zurück, packte seine wenigen Dinge in den Rucksack und legte die beiden Briefe ordentlich nebeneinander auf den Tisch. Er schrieb noch eine kurze Zeile an die Wirtin, nur ein Dank für die Zeit, die sie ihm unbeschwert gelassen hatte und legte einen Briefumschlag mit Geld dazu, mehr, als er hätte zahlen müssen.
Gegen Abend, als die Schatten länger wurden und der Himmel einen warmen Ton annahm, zog er seine Jacke an. Er blieb einen Moment in der Tür stehen, als prüfe er, ob er etwas vergessen hatte.
Dann verließ er die Pension. Der Weg in den Wald lag wie ein vertrauter Atemzug vor ihm. Er ging ohne Eile, Schritt für Schritt, dem letzten Licht des Tages entgegen.
Am Morgen nach Pauls Verschwinden bemerkte die Wirtin der kleinen Pension, dass sein Bett unberührt geblieben war. Auf dem Tisch lag ein Umschlag mit einigen Geldscheinen und einer kurzen Zeile des Dankes. Daneben sein Handy, der Reisepass, das sauber gefaltete Testament und ein weiterer Brief, an eine Ellen. Die Wirtin begriff sofort, dass etwas nicht stimmte, ließ alles liegen und rief die Polizei.
Die Beamten durchsuchten das Zimmer. Im Mülleimer fanden sie mehrere leere Tablettenschachteln. Nachbarn hatten Paul tags zuvor mit seinem Rucksack in Richtung Wald gehen sehen. Alles deutete auf einen Suizid hin. Eine Suchaktion begann; Hunde liefen die Pfade ab, Freiwillige durchkämmten das Gelände. Am folgenden Nachmittag fand man Paul auf der Lichtung, den Rucksack und eine Thermoskanne neben sich, die Natur still um ihn her, friedlich. Nichts deutete auf ein Gewaltverbrechen hin.
Die Polizei meldete den Todesfall an die zuständigen Stellen.
Von all dem wusste Ellen nichts. Nach ihrer Rückkehr aus Schweden zog Ellen vorübergehend in das freie WG-Zimmer einer Freundin in Köln. Sie hatte sich entschlossen, zum Wintersemester mit dem Studium zu beginnen – Skandinavistik und Literaturwissenschaft, eine Wahl, die erst dort, an der Küste in Schweden, in ihr aufgetaucht war – in den Tagen mit Paul.
Mit ihren Eltern hatte sie sich zerstritten. Sie wollten ihr kein weiteres Studium finanzieren. Ihre Mutter hielt die Berufswahl für ein schönes Hobby, aber keinen Beruf. Und sicher kein Weg zu Unabhängigkeit. Als Frau sollte „frau“ finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Ihr Vater schwieg nur und schien mehr enttäuscht als wütend über ihren Entschluss.
Um sich über Wasser zu halten, nahm sie einen Aushilfsjob in einem kleinen Café an, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Die Tage wurden gleichmäßiger, geordneter; sie lernte neue Gesichter kennen. Trotz der Arbeit und der kargen Existenz fühlte sie sich zum ersten Mal frei und nicht mehr gegen sich selbst gestellt.
An einem dieser Abende – es war schon dunkel, und sie kam müde aus dem Café zurück – fand sie eine E-Mail aus Schweden in ihrem Postfach. Der Absender wirkte zunächst verdächtig, ein Nachlassgericht, knapp, sachlich, ohne weitere Erklärung. Sie hielt es erst für Spam. Doch die Nachricht war anders: auf Schwedisch und Englisch, mit dem Emblem des Tingsrätten Härnösand. Sie prüfte die Adresse, suchte das Gericht im Internet und verglich Telefonnummer und Wappen.
Erst als sie sicher war, dass die Nachricht echt war, wurde sie unsicher. Wer sollte ihr aus Schweden schreiben? Sie antwortete schließlich und gab die Adresse ihrer Eltern an.
Wenige Tage später rief ihre Mutter an. Ein schwerer Umschlag aus Schweden sei gekommen. Ob sie jetzt auch noch Ärger mit den Behörden in Schweden habe. Ellen bat sie, den Brief weiterzuleiten. Als sie ihn endlich selbst in den Händen hielt, war sie aufgeregt wie vor einem unbekannten Ausgang.
In ihrer kleinen Studentenwohnung setzte sie sich an den Schreibtisch und legte den Umschlag vor sich hin. Erst beim zweiten Versuch riss sie ihn auf.
Darin lag ein offizielles Schreiben des Gerichts, ein Brief – und das Buch, das Paul zum Abschied geschenkt hatte.“
„Nein“, flüsterte sie. „Bitte nicht.“
Mit zitternden Händen nahm sie die Unterlagen. Ein Todesfall. Ein Testament. Ein Paul Lindholm habe sie als Erbin benannt. Eine Aufforderung, innerhalb von sechs Wochen mitzuteilen, ob sie das Erbe annehme oder ausschlage. Der Hinweis, dass der Verstorbene keine Angehörigen gehabt habe.
Dann sah sie den zweiten Umschlag. Klein. Schwer. Ihr Name darauf – in Pauls Handschrift.
Sie legte eine Hand darauf, noch ungeöffnet. Im Fenster zogen graue Wolken über Köln hinweg, und für einen Moment war ihr, als säße sie wieder auf der Bank über der schwedischen Bucht, dort, wo ihre Wege sich gekreuzt hatten.
Sie öffnete den Brief.
Liebe Ellen,
wenn du diese Zeilen liest, bin ich gegangen. Nicht im Unfrieden, nicht in der Verzweiflung, sondern in großer Klarheit. Es ist mir wichtig, dass du das weißt. Ich habe nicht aus Not gehandelt, sondern aus dem Wissen heraus, dass ein Leben einen Punkt erreicht, an dem es vollständig ist. Für mich war dieser Punkt gekommen.
Du sollst dir keine Sorgen machen. Ich hinterlasse keine Schulden, keine offenen Verpflichtungen, nichts, was dich belasten könnte. Wenn du das Erbe annehmen möchtest, dann tu es ohne Angst. Es wird dich die nächsten Jahre unabhängig machen und du wirst deine Träume wahrwerden lassen können. Es ist mein ausdrücklicher Wunsch, dass du es tust. Sieh es als einen kleinen Beitrag zu deinem Weg – nicht als Bindung, sondern als Befreiung. Du kannst damit machen was du willst. Ich weiß, es ist in guten Händen.
Ich danke dir für die Stunden, die wir miteinander geteilt haben. Vielleicht war dir gar nicht bewusst, wie viel mir diese Gespräche bedeutet haben. Es war lange her, dass ich mich einem Menschen so zugewandt fühlte, ohne eine Rolle spielen zu müssen. Du hast mich an etwas erinnert, das ich fast vergessen hatte: wie lebendig ein ruhiges Gespräch sein kann. Du hast mir dieses wunderbare Buch geschenkt. Ich habe es gelesen und gewusst, dass wir Seelenverwandte sind, Seelenverwandte aus zwei Generationen.
Ich habe ein erfülltes Leben gehabt. Viele Jahre an der Seite meiner Frau, die ich geliebt habe. Ich habe ihren Verlust überstanden und meinen Frieden damit gemacht. Aber ich habe auch gesehen, wie schwer das Leben werden kann, wenn man die Herrschaft über die eigenen Gedanken verliert. Diesem Weg wollte ich zuvorkommen. Es war eine Entscheidung, die ich schon lange in mir trug, und ich habe sie ohne Wehmut getroffen.
Du hingegen solltest bleiben. Du solltest dir deine Träume erfüllen – die echten, nicht die, die andere dir einreden wollen. Verwechsele nie fremde Erwartung mit deinem eigenen Weg. Die Menschen, die am lautesten wissen, was gut für dich ist, denken oft zuerst an sich selbst. Höre nicht auf sie. Höre auf dich. Auf das, was dir Freude macht, und auf das, was dich neugierig hält.
Du hast mehr Kraft, als du glaubst. Vertraue ihr. Und vertraue darauf, dass du deinen Platz im Leben findest. Du bist auf einem guten Weg, einfach weil er deiner ist.
Bleib freundlich mit dir selbst. Bleib wach für das, was dich berührt. Und bleib mutig, wenn es darum geht, dem eigenen Herzen zu folgen.
In stillem Dank,
Paul
Einige Wochen später fuhr Ellen mit einem kleinen Schlüssel und den Dokumenten aus Schweden nach Bremen. In der Sparkasse prüfte der Abteilungsleiter ihre Unterlagen und übergab ihr die Kontoauszüge. Paul hatte ihr sein gesamtes Vermögen hinterlassen: das Guthaben auf dem Girokonto, die Anlagen auf Tages- und Festgeldkonten, dazu Bargeld und Gold im Schließfach.
Der Mann hinter dem Schreibtisch nickte ihr zu, freundlich, aber mit einem Ton, der Routine verriet. „Sie sollten sich vielleicht beraten lassen, wegen der steuerlichen Folgen“, sagte er beiläufig. „Nur, damit alles seinen richtigen Weg geht.“
Ellen versprach es, ohne im Einzelnen zu begreifen, was auf sie zukommen würde. Doch der Gedanke berührte sie weniger, als sie erwartet hatte. Alles fühlte sich noch unwirklich an, wie etwas, das sich erst mit der Zeit ordnen würde.
In den Semesterferien reiste sie nach Schweden, dorthin, wo sie Paul kennengelernt hatte. Die Wirtin der Pension zeigte ihr den Friedhof und die Stelle im Gedenkhain, an der Paul beigesetzt worden war.
Dann führte sie Ellen zu jener Lichtung im Wald, von der sie wusste, dass man Paul dort gefunden hatte.
Ellen kniete sich hin, blickte in den Himmel, der durch die Baumkronen schimmerte, und spürte eine Stille, die nicht schwer, sondern freundlich war. Sie spürte die Kraft, die von diesem Ort ausging.
Sie legte einen kleinen, glatt geschliffenen Stein ab – hell, rund, wie vom Meer poliert. Sie hatte ihn seit Jahren in der Tasche getragen, ohne zu wissen, wem er einmal gehören sollte.
„Danke Paul“, flüsterte sie.
Der Wind strich durch die Kiefern, leise, wie eine Antwort.

